Sitzungsprotokoll Brühl

Anlässlich des siebenten Todestages von David Foster Wallace (21.02.1962 - 12.09. 2007) will es sich das FOG-Institut nicht nehmen lassen, diese satirische Chemnitz-Adaption eines Wallace-Textes aus dem Jahre 1987 – ursprünglich veröffentlicht im Rahmen des Romans „Der Besen im System“ unter dem Titel „Great Ohio Desert“ - zu veröffentlichen. Im Original plant der Gouverneur von Ohio die "Errichtung" einer Wüste aus schwarzem Sand direkt in der Mitte des Bundesstaates. Hier nun die Version mit offensichtlichen Chemnitz-Bezügen - viel Spaß beim Lesen.


Sitzungsprotokoll:

 

Unterredung zwischen der ehrenwerten Ludwika Stecyk, Oberbürgermeisterin der Stadt der Moderne, Herrn Leo Ullrich, Geschäftsführer der kommunalen Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaft, Severin Eule, Standortmanager der kommunalen Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaft und Richard Permulis, Vorstandsvorsitzender der Permulis & Partner Industrieflächen Chicago Paris London AG

 

OBERBÜRGERMEISTERIN: Meine Herren, irgendetwas stimmt hier nicht.

HERR EULE: Was meinen Sie, verehrte Oberbürgermeisterin?

OBERBÜRGERMEISTERIN: Unsere Stadt, Severin. Irgendetwas stimmt nicht mit unserer Stadt.

HERR ULLRICH: Aber, verehrte Oberbürgermeisterin, Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsverlust sind auf dem niedrigsten Stand seit langem. Keine Erhöhung der Gewerbe- und Grundsteuer in den letzten beiden Jahren. Die Stadtentwicklung haben wir im Griff – bis auf den Sonnenberg, und wen interessiert schon der Sonnenberg? – natürlich nur ein Scherz, Severin. Verehrte Oberbürgermeisterin, die Menschen lieben Sie, in den Umfragen liegen Sie so weit vorn wie noch nie in der Geschichte unserer Stadt; Investitionen und die allgemeine industrielle Entwicklung unserer Stadt befinden sich gleichsam in einem beispiellosen Aufwärtstrend…

OBERBÜRGERMEISTERIN: Stopp, stopp, genau das meine ich. Das ist es ja.

HERR EULE: Können Sie das näher erklären, verehrte Oberbürgermeisterin?

OBERBÜRGERMEISTERIN: Es läuft einfach zu gut. Das könnte auch eine Falle sein.

HERR ULLRICH: Eine Falle?

OBERBÜRGERMEISTERIN: Leute, die Stadt wird mir zu modern. Ich spüre nur noch Moderne da draußen. Alles nur noch Eigenheime, sanierte Stadthäuser, Grünflächen, Dienstleistungsbetriebe und Einkaufscenter. Das ist mir etwas zu viel Entwicklung. Die Leute werden allmählich bequem. Sie vergessen, dass die Stadt ein industrielles Herz hat, dass hier Jahrhunderte lang mit Technik gerungen wurde. Ich kann dieses Herz nicht mehr schlagen hören.

HERR EULE: Da könnten Sie Recht haben, verehrte Oberbürgermeisterin.

OBERBÜRGERMEISTERIN: Wir brauchen ein neues Industriegebiet.

HERR ULLRICH und HERR EULE: Ein neues Industriegebiet?

OBERBÜRGERMEISTERIN: Ein Industriegebiet, meine Herren. Ein Bezugspunkt zur industriellen Vergangenheit der Stadt. Ein Industriegebiet, keine Gewerbegebiet. Irgendetwas, das uns daran erinnert, aus welchem Holz wir geschnitzt sind. Ein Ort ohne Wissenschaftler, Computerspezialisten und Finanzbeamte. Die harte Seite von Chemnitz. Mit rauchenden Schornsteinen, Abgasen, Dreck und Schweiß. Ein Ort, an dem die Menschen richtig arbeiten können. Ein Ort zum Nachdenken.

HERR EULE: Super Idee, verehrte Oberbürgermeisterin.

OBERBÜRGERMEISTERIN: Danke, Severin. Deshalb, meine Herren, darf ich Ihnen Herrn Richard Permulis von Permulis & Partner Industrieflächen vorstellen. Dieselbe Firma, die schon das Ruhrgebiet gemacht hat.

HERR PERMULIS: Sie sagen es, Frau Stecyk. Und wir glauben, dass wir auch euch in Chemnitz ein 1a-Industriegebiet hinlegen können.

HERR EULE: Wie sieht´s mit der Kostenseite aus?

OBERBÜRGERMEISTERIN: Liegt im Rahmen.

HERR ULLRICH: Und wo soll es hin, dieses Industriegebiet.

HERR PERMULIS: Nun, meine Herren, die Oberbürgermeisterin und ich haben uns schon mal was überlegt. Wenn Sie sich bitte mal diesen Stadtplan…

HERR EULE: Das ist ganz klar Chemnitz.

HERR PERMULIS: Die Gegend, an die wir gedacht haben, liegt im Herzen ihrer großartigen Stadt. Gleich neben… hier etwa. Vielmehr von hier nach da. Zirka 1,5 Quadratkilometer.

HERR EULE: In der Nähe vom Brühl.

HERR PERMULIS: Richtig.

HERR ULLRICH: Aber da leben doch noch Leute. Nicht viele, aber immerhin.

OBERBÜRGERMEISTERIN: Siedeln wir um. Das Gebiet wird enteignet. Das Industriegebiet duldet keine Häuser oder Menschen. Passt somit hervorragend ins Gesamtkonzept.

HERR ULLRICH: Liegt da nicht in der Nähe der Theaterplatz?

OBERBÜRGERMEISTERIN: Nicht mehr.

(HERR ULLRICH pfeift anerkennend.)

HERR EULE: Hey, aber meine Mutter wohnt in der Elisenstraße.

OBERBÜRGERMEISTERIN: Das schmerzt, was? Aber wir müssen alle Opfer bringen. Das ist Teil des Gesamtkonzeptes. Opfer bringen. Wir ringen dem Zentrum der Stadt der Moderne ein Industriegebiet ab, ist das nichts? Es muss wehtun.

HERR ULLRICH: Sie sind wirklich entschlossen, verehrte Oberbürgermeisterin?

OBERBÜRGERMEISTERIN: Leo, ich war nie entschlossener. Es ist das, was unsere Stadt jetzt braucht. Ich spüre es.

HERR EULE: Damit gehen Sie in die Geschichte ein, verehrte Oberbürgermeisterin.

OBERBÜRGERMEISTERIN: Danke, Severin. Ich spüre nur, dass es richtig ist. Und nach dem Gespräch mit Herrn Permulis bin ich entschlossener denn je. 1500 Hektar Industriegebiet, Maschinen, Hallen, Lager, Produktion. Klar, am Rand werden wir einige Bäume pflanzen, damit die Leute flanieren können.

HERR ULLRICH: Aber warum Industriegebiet, verehrte Oberbürgermeisterin? Warum nicht, sagen wir, ein Schwerindustriegebiet?

OBERBÜRGERMEISTERIN: Was meinen Sie, Leo?

HERR ULLRICH: Ich meine, wenn es schon um einen möglichst starken Kontrast geht, das andere Chemnitz, die industrielle Herz oder sagen wir, die harte, dreckige, stinkende Seite von Chemnitz... Ich meine, dass Stinkende, Dreckige müsste schon mit rein.

OBERBÜRGERMEISTERIN: Dreckige, stinkende Seite gefällt mir. Hört sich wie schwere Arbeit an.

HERR ULLRICH: Vor allem, weil Chemnitz ja sonst eher sauber ist. Die Straßen sind sauber, die Parks sind sauber, im Schlossteich kann man baden. Die Rentner der Stadt schwitzen nicht, die Ladenbesitzer müssen sich nicht mal von der Kasse bewegen… Einen besseren Gegensatz als 1500 Hektar Industriegebiet mit rauchenden Schloten und Giften kriegen wir nicht hin. Die Abfallstoffe könnten wir direkt in die Chemnitz leiten. Verstärkt dadurch die historische Komponente.

OBERBÜRGERMEISTERIN: Also mir gefällt das, Richard. Was meinst du? Sind Schornsteine im Stadtzentrum heutzutage genehmigungspflichtig?

HERR PERMULIS: Ich sehe da kein Problem.

HERR EULE: Wie sieht´s mit der Kostenseite aus?

HERR PERMULIS: Richtige Schwerindustrie ist möglichweise einen Tick teurer, ich muss mal mit den Jungs von der Abteilung Schwerindustrie reden. Aber ich denke, so viel kann ich sagen: Bezogen auf das Gesamtprojekt hält sich der Mehraufwand in Grenzen.

OBERBÜRGERMEISTERIN: Also gut.

HERR ULLRICH: Wann fangen wir an?

OBERBÜRGERMEISTERIN: Sofort. Wer der Stadt ihr industrielles Herz zurückgeben will, muss beherzt und schnell vorgehen. Und hart durchgreifen.

HERR EULE: Verehrte Oberbürgermeisterin, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber: von Mann zu Frau und von Bürger zu Oberbürgermeisterin – meinen Respekt für diese großartige Idee.

OBERBÜRGERMEISTERIN: Danke, Severin. Und jetzt rufen Sie gleich mal ihre Mutter an.

HERR EULE: Wird gemacht.

HERR ULLRICH: Und wie wollen wir das Ding nennen, verehrte Oberbürgermeisterin?

OBERBÜRGERMEISTERIN: Nennen? Das ist ein ausgezeichneter Punkt, Leo. Über die Namensfrage habe ich noch gar nicht nachgedacht.

HERR ULLRICH: Darf ich einen Vorschlag machen.

OBERBÜRGERMEISTERIN: Schießen Sie los!

HERR ULLRICH: Manchester Industrial City Center of Chemnitz.

OBERBÜRGERMEISTERIN: Manchester Industrial City Center of Chemnitz?

HERR ULLRICH: Ja.

OBERBÜRGERMEISTERIN: Leo, ein Spitzenname. Ich ziehe meinen Hut. Ihnen gelingt einfach alles. Der Name vermittelt Geschichte, Größe und Lage. Und man erfährt, dass das Industriegebiet in Chemnitz liegt. Hervorragend.

HERR ULLRICH: Nicht zu großkotzig?

OBERBÜRGERMEISTERIN: Aber kein bisschen. Der Name passt 1a in unser Gesamtkonzept.

HERR EULE: Leo, auch ich ziehe meinen Hut.

HERR PERMULIS: Verdammt guter Name, Leo.

OBERBÜRGERMEISTERIN: Dann hätten wir alles. Gesamtkonzept. Art des Gebietes, Name, Lage. Alles, was jetzt noch fehlt ist, dass wir das Herz der Stadt wieder schlagen hören.

HERR PERMULIS: Dann packen wir´s an.

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